Leseauszug

     Am 8.1.1947 erhielt Grit einen Brief vom Schulamt der Kreisstadt mit der Aufforderung zur Anhörung.  Dort hoffte sie, ihre Unschuld beweisen zu können. Nicht nur  Familie Echternich hatte ihr ein Leumundszeugnis, einen Persilschein ausgestellt, in dem ihr diese bescheinigte, dass sie eine vorzügliche Lehrerin war und ihre nationalsozialistischen Verpflichtungen nur in der vorgeschriebenen Weise erfüllt  und niemandem in der Schule Schaden zugefügt hatte.  Eine Studienkollegin bezeugt  in einer schriftlichen Stellungnahme Grits Widerstand  gegen den Rassekundeunterricht. Auch  Herr März setzte sich für Grit ein. Er stellte die unschöne Angelegenheit über den  Brief von Grits Vater, den er damals an die Parteileitung weitergereicht hatte, richtig und versicherte dem Schulamt, dass der  Streit  mit dem Ortsgruppenleiter Hemmelmann Frau Manthey ohne seinen  Beistand   ins Gefängnis gebracht hätte.  Wie berechtigt  ihr  Aufbegehren gegen den Ortsgruppenleiter war, beweise inzwischen die Inhaftierung desselben, nachdem ans Tageslicht  kam, dass er nachweislich  im großen Stil auf Kosten der Gefangenen im Arbeitslager an Schwarzmarktgeschäften  beteiligt war und durch nützliche Hinweise über politische Gegner an die Gestapo,  mit requirierendem Besitz von der Geheimen Stattspolizeit honoriert worden war. Auch das schrieb Herr März.

Außer Atem  klopfte Grit zwei Minuten nach 9  an die Tür des Schulsekretariats der ehemaligen Pateizentrale,  vor der sie  schon einmal gestanden hatte, als es um ihre Entlassung ging. Wie damals tippte die Dame am Schreibtisch  unverdrossen in großer Geschwindigkeit einen Text auf das Papier. Sie schaute auf, als sie Grit eintreten sah und deutete mit einem Blick wortlos zu einem Stuhl. Wenig später bat sie ein älterer Herr, der sich als Schulrat vorstellte, in das Nebenzimmer. Während er die Anhörung mit einleitenden Worten eröffnete,

wanderten Grits Augen über die Anwesenden. Sie erkannte Rosemarie, auch den Mann, der einen Juden versteckt hatte, den Bienenzüchter und den Pfarrer ihres letzten Schulortes. Kurt Steines  hatte sich wegen möglicher Befangenheit  von dieser Sitzung befreien lassen. Die anderen Anwesenden konnte Grit nicht zuordnen.

Wir haben uns versammelt, um Ihren Fall zu klären, begann der Schulrat in väterlichem Ton. Es geht um ihre Entlassung und Wiedereinstellung in den Schuldienst. Der Schulrat sah Grit fragend an, sie nickte.

Ihnen sind die Vorwürfe gegen Sie bekannt?

Da Grit nur inoffizielle Informationen durch Rosemarie erhalten hatte, antwortete sie,

nein, bis heute nicht.

Nein?  Das ist ja sonderbar,der Schulrat blätterte nervös in seinen Papieren.

Ist Ihnen kein entsprechendes Schriftstück zugesandt worden?

Nein!

Grit sah, dass einige  Anwesende verständnislos den Kopf schüttelten; Das gab ihr Mut.

Der Schulrat rief die Sekretärin.

Ist es nicht üblich, dass die entlassenen Beamten die Gründe für ihre Suspendierung  schriftlich erhalten?

Der neue Schulrat schaute resigniert an die Decke.

Im Allgemeinen doch, allerdings in der knappen Form „Belastet“, nach meinem Wissen,  aber die   Franzosen wickelten die Verfahren in eigener Regie ab. Zu der Zeit war  ich in dieser Abteilung  nicht tätig; man hatte mich wie den Schulrat entlassen.

Nun meldete sich der Pfarrer zu Wort.

Wir sind  hier nicht von irgendwelchen unzulänglichen Schriftstücken abhängig.  Die  Junglehrerin Grit Manthey ist mir aus meiner Kirchengemeinde bekannt. Es gibt genug, was ich dazu sagen kann.

Dann berichten Sie uns!

Auf der Stuhlkante sitzend gestikulierte er mit seinen Spinnenfingern in Grits Richtung.  Ihn hatte Grit gefürchtet, zu Recht.

Frau Manthey besuchte keine Messe. Nicht nur das, sie überredete die Kinder, am Sonntag an den Aufmärschen teilzunehmen, obwohl das in unserer Gemeinde nicht üblich war. Darüber hinaus berichtete die Vermieterin, Frau Schnüttgen, dass die Junglehrerin die Kruzifixe bei ihrem Einzug unters Bett gelegt hatte, noch schlimmer, auch in ihrem Klassenraum hängte sie den Herrn Jesus ab.

Das ist nicht wahr,

entfuhr es Grit.

Was ist nicht wahr?

fragte der Schulrat.

Den Klassenraum ließ ich unverändert; nur Kinderzeichnungen habe ich dazu gehängt.

Aber das Lagern der Kruzifixe unter dem Bett streiten Sie nicht ab?

Ich dachte, mein Zimmer wäre meine Privatangelegenheit.

Ein Lehrer hat ein Vorbild zu sein, gerade in Christenfragen. Wir haben ja gesehen, was  die Christenlosen in den letzten Jahren zu verantworten hatten,

knarzte der Priester wieder aus seiner Ecke.

Grit schaute hilfesuchend zu Rosemarie und Franz Oxler, der Vater ihrer alten Schulfreundin,  den die Nazis in Schutzhaft genommen hatten. Beide schauten ausdruckslos in den Raum.

Der Schulrat blätterte in seinen Unterlagen.

Es gibt hier einen sehr unangenehmen Brief,

er ging zu Grit und hielt ihn vor ihre Augen,

kennen Sie den?

Grit  erkannte den Brief ihres Vaters an den Pateifreund Josef März.

Hier werden Sie als äußerst linientreu, dem Führer ergeben und zuverlässig beschrieben, dazu bescheinigt man Ihnen gute Führungseigenschaften in verschiedenen NS-Organisationen und Ihr Engagement für Staatsfeiertage und Hilfswerke.

Grit stiegen Tränen auf, die sie herunterzuschlucken versuchte.

Dieser Brief ist aus dem Streit mit dem Hausmeister entstanden, der meine Entlassung betrieb und mir mit Zwangsmaßnahmen drohte, wir hatten doch alle Angst,

brachte sie mühsam hervor. 

Ha, sag ich`s nicht immer, so wollen  die sich  herausreden,

polterte der Priester.

Das geht zu weit!

Rief Rosemarie mit schriller  Stimme.

Frau Manthey, sie äußern gerade, dass Sie diesen Brief aus Angst verfassen ließen. Wovor musste eine so linientreue Person wie Sie Angst haben?

Wollte Rosemarie sie nun vorführen oder eine Brücke bauen, fragte sich Grit,

ich habe Menschen verschwinden sehen, von KZ`s war die Rede, abholen, das geschah doch….

trotzdem stellten Sie die NS-Gesinnung nicht infrage?

Doch, gegen Ende des Krieges zunehmend, aber da war es zu spät.